„Achterutseilt“ oder „Joseph ut Kolumbien“

 

Nur ein Seemann kann Sinn und Bedeutungsausmaß dieses Wortes „achterutseilt“ ermessen und seelentief erfassen. Nur 12 Buchstaben in der richtigen Reihenfolge gefügt, können für eine nicht zu ermessende Zeit ein Leben umkrempeln, völlig aus der Bahn werfen. So erging es dem Matrosen Erich Pannier und mir am 12. 12. 1957 in der Vorweihnachtszeit im französischen Hafen Dieppe in der Normandie am englischen Kanal. Wir gehörten zur Besatzung des Bananendampfers „HORNCAP“ der Hamburger Reederei Horn, in Charterfahrt für die französische Reederei CGT - „Compagnie Generale Transatlantique“ nach Kolumbien unterwegs.

Die Löscharbeiten der Teilladung Bananen für Dieppe wurden zügig und früh beendet, so dass nach Arbeitsende und vollzogener Abmeldung beim Wachoffizier Uwe Beyer bis zum Hochwasser zum Auslaufen noch reichlich Zeit für ein Bier in der Hafenkneipe unweit des Liegeplatzes blieb. Erich und ich gingen also in guter Absicht an Land. Der leichte Regen auf dem Weg zur Kneipe störte uns wenig. Draußen neben der Kneipentür stand eine Kiste mit Apfelsinen im Regen. Um sie vor möglichem Schaden zu schützen, nahm Erich die Kiste mit in den Gastraum und stellte sie neben dem Tresen auf den Fußboden. Einfach nur umsichtig und ohne eine rechtswidrige Zueignungsabsicht. Beim Mann an der Theke bestellten wir jeder ein Bier.

Doch ehe es fertig gezapft war, stürmten mehrere „Flics“, uniformierte französische Polizisten in die Kneipe, ergriffen uns beide und stießen uns ohne Gegenwehr gewaltsam und roh auf die Ladefläche ihres Polizeiwagens. Wir begriffen nicht, was und weshalb uns dieses geschah. Nach spontan unbegreiflicher Fassungslosigkeit protestierten wir lauthals, ohne Erfolg. In der Polizeiwache mussten wir unsere Taschen leeren und wurden in getrennte Zellen gesperrt.  Die Zellen hatten etwa einen Grundriss von 2,50 Meter mal 2,50 Meter, kahle Wände und ein kleines vergittertes Fenster in der Tür. Von der hohen Decke hing unerreichbar eine in eine Fassung eingeschraubte Glühlampe, der Fußboden aus Holzbohlen hatte zur Tür hin eine spürbare Schräge. Erich und ich hatte keinen Kontakt zueinander, nicht mal einen Hörkontakt. Ich schlug kräftig und ständig mit den geballten Fäusten gegen die hölzerne Zellentür. Die Polizei rührte sich nicht. Es mag schon nach Mitternacht gewesen sein, die Auslaufzeit war mit dem Lotsen auf 04.00 Uhr festgesetzt worden, ging in immer kürzeren Abständen das Schiffstyphon. Drei lange Töne sendete es das allen Seeleuten in allen Häfen der Welt bekannte Signal in die dunkle Nacht: Schiff fertig zum Auslaufen – heute mit rechtswidriger Unterbesetzung bei zwei fehlenden Seeleuten in der Musterrolle.  Ich rief, brüllte, was Stimme und Lunge hergaben, vergaß dabei alle Formen von Höflichkeit:  „Vous étes couchons, notre bateau va partir!“  „Ihr seid Schweine, unser Schiff will auslaufen!“ Das hätte ich unterlassen sollen. Mit lautem Schlag ging die Klappe in der Tür auf, ein Wasserschlauch wurde durch die Öffnung geschoben – und dann wurde ich gezielt von oben bis unten bei hohem Druck unter kaltes Wasser gesetzt. Am Ende des wenig humanen und vollzugsunwürdigen Geschehens war ich samt meiner Kleidung triefend nass. Das eiskalte Wasser war auf der Schräge des hölzernen Fußbodens abgelaufen. Die Nacht verbrachte ich frierend und zitternd auf der hölzernen Schräge.

Am frühen Morgen wurden wir von einem Polizisten in die Wachstube geholt. Vom Revierleiter gab es  Bekundungen von Bedauern wegen der irrtümlichen Arrestierung. Nachforschungen hätten ergeben, dass der Fahrer eines Fruchttransporters die Kiste mit Apfelsinen vor der Kneipe abgestellt hatte, um diese später beim Kneipenwirt gegen Bier zu verrechnen! Wir hatten die Pechsträhne auszubaden. Die „HORNCAP“ war ohne uns ausgelaufen. Nach unserer Entlassung aus dem unverschuldeten Arrest waren wir beiden mittellos im französischen Dieppe zurückgeblieben. Es gab keine konsularische Vertretung, um uns zu helfen oder mit dem Notdürftigsten zu versorgen. Ausweispapiere, sprich Seefahrtsbuch und Geld reisten an Bord im Safe des Zweiten Offiziers nach Kolumbien.

„Vogel friss oder stirb“ hieß es jetzt für uns beide. Wir verließen die Wache, ich frierend und noch halbwegs durchnässt vom nächtlichen Wasserschwall der „Ordnungshüter“, Erich gleichermaßen fröstelnd im kalten Winter.

Das Naheliegendste für Seeleute ist immer der Hafen mit Schiffen.  Also suchten wir nach einem Schiff, das zufällig für einen deutschen Hafen bestimmt war. Nach langem Suchen trafen wir auf das Glück im Unglück: wir stießen an der langen Hafenmole auf die Flotte der Bremerhavener Heringslogger. Sie hatten ihre Fangsaison beendet, wollten rechtzeitig vor Weihnachten ihren Fang in Bremerhaven löschen, um danach mit ihren Familien das Weihnachtsfest zu verleben. Ich war für uns beide der Bittsteller, schilderte unsere unverschuldete Situation – und fand für beide einen Logger zur Heimfahrt. Auch wenn Wasser keine Balken hat, für Seeleute ist ein Schiff auf Heimatkurs eine Erlösung aus Not und Pein, selbst wenn es ein Heringslogger ist.

Ich ging an Bord der „ENTE“ – wie sinnig! Der „Alte“, der Kapitän war bei aller Hilfsbereitschaft nicht ganz uneigennützig. Seine Besatzung war bei den Berufshärten der Logger-Fischer während einer harten Fangsaison extrem gefordert gewesen. So kam ich als „Sonntagsfahrer“ vom Bananendampfer zu rechten Zeit an Bord. Als erstes bekam ich, welch eine Wohltat, trockenes Arbeitszeug und schlitterte an einer derben Erkältung vorbei. Arbeiten an Deck gab es nicht. Der Logger war seeklar für die Heimreise hergerichtet. Der Kapitän beorderte mich ans Ruder. Das war vertraute Arbeit: im warmen Ruderhaus auf dem Hocker hinterm Ruder, allerdings drei bis vier Stunden am Stück. Dafür konnten die Wachgänger der Stammbesatzung sich gehörig ausschlafen. So war allen und auf vorteilhafte Weise gedient. 

 Nach dem Anlegen an der Genossenschaftspier in Bremerhaven ging es nach der Einklarierung unverzüglich ans Löschen von Fang und Geschirr. Der Kapitän bot mir an, gegen einen guten Stundenlohn bei den Arbeiten bis zum Ende mitzuhelfen. Das gleiche Angebot bekam Erich vom Kapitän seines „Mitfahr-Loggers“. Wir schlugen beide ein und verdienten während der Lösch-Woche gutes Geld ohne Abzüge für eine ausreichende Grundversorgung an Land. Dafür mussten wir als Erstes die Fleet, ein etwa 6000, in Worten: sechstausend Meter langes Netz in die Netzhalle transportieren. Beim Vergleich der Heringsnetze unserer Dahmer Fischer kamen mir diese Ausmaße der Logger- Netze  gigantisch vor. Dem Fanggeschirr folgte der kostbare Fang. Unentwegt wurde „Kanntje“ für „Kanntje“  mit eingesalzenen Heringen aus der Last, dem Laderaum des Loggers, gehievt und über die lange Pier in die Lagerhallen gerollt und dort gestapelt, in schweißtreibender Arbeit Hunderte gefüllter 30 - Kilo-Holzfässer – alle von Hand bewegt und bewältigt. Der Gabelstapler war noch nicht erfunden!  

Nach einigen Tagen Erholung bei einem Matrosen der „ENTE“ aus Bremen-Blumenthal fuhr ich am 24.12.1957 – Heiligabend –  mit dem Zug, Umsteiger in Hamburg, nach Neustadt in Holstein. Auf dem Bahnsteig traf ich den Dahmer Kaufmann Abresch, der seinen Sohn Dieter abholen wollte. Abresch war Geschäftsnachfolger des kleinen Kolonialwarenladens Lüthje an der Ecke vom Strandweg gegenüber Haus Sonneck von Herbert Fick. Später wurde der Laden von Kaufmann Rehse übernommen. Abresch kannte mich, meine Mutter war Kundin in seinem Laden.

Ich bat Herrn Abresch, mich in seinem PKW nach Dahme mitzunehmen, weil zu dieser Zeit und später am Tag kein Bus mehr nach Dahme fuhr. Er antwortete mir, dass sein Auto einen Schaden an der Hinterachse habe und er mich leider nicht mitnehmen könne. So blieb mir nur der Weg zu Fuß nach Dahmeshöved. Meine Mutter hat nie wieder bei Abresch gekauft.

 

 Auf dem Bahnhofsvorplatz traf ich auf einen Mittzwanziger mit Knotenstock und typischer Gepäckrolle eines Wanderburschen über dem Rücken. Ich sprach ihn an nach dem Woher und Wohin. Freudig antwortete er, dass er auf dem Wege nach Merkendorf vor den Toren Neustadts sei. Er sei Zunftgeselle und habe seine Wanderzeit von drei Jahren und einem Tag hinter sich. Zu Weihnachten wolle er seine Eltern und Familie in Merkendorf mit seiner Heimkehr überraschen. Ich berichtete ihm von meiner aus dem Rahmen gefallenen Reise nach dem „Achteraussegeln“ in Dieppe. So beschlossen wir beiden, zusammen bis Merkendorf zu gehen. Bei seinen Eltern in Merkendorf brach bei seiner unverhofften Ankunft am Heiligenabend der reinste Jubel in der Familie aus. Ich wurde zu einer Tasse wärmenden Kaffee eingeladen. Um nicht Störenfried in der Merkendorfer Familie zu werden, machte ich mich nach dem belebenden Kaffee und einem herzlichen Dankeschön auf die Socken zu meiner Familie am Leuchtturm Dahmeshöved.

 

Von Merkendorf an hieß es „Pflastertreten“ über die alte Chaussee, vorbei an Bliesdorf und Albersdorf bis nach Grömitz mit weihnachtlich hell erleuchteten Fenstern in den Häusern. Dort wollte ich dem Weg über den Deich entlang der Ostsee folgen. Beim Betreten des Deiches erschien in dunkler Nacht und klarer Luft wegweisend und verheißungsvoll der erste helle Strahl des Leuchtturms Dahmeshöved. Was man damals nicht wusste: dieser Strahl wirkte Wunder wie ein Adrenalinschub. Alles zuvor verdrängte kompakte Geschehen um das „Achteraussegeln“ und seiner durchlebten Folgen in ihrer ständigen Verdrängung und Schönrederei fiel mit der ersten Lichterscheinung von mir ab. Das klare Licht beflügelte meine Schritte. Ich überquerte die Lenster Schleusen, ich spürte nicht die winterliche frische Luft durch meine eher sommerliche Kleidung, ich erfreute mich an einem wolkenlosen Himmel voller strahlender Sterne über mir. Noch vor Mitternacht empfing mich Kellenhusen mit weihnachtlich hell erleuchteten Fenstern und blieb hinter mir. Die letzte Strecke, mein von früher vertrauter täglicher Schulweg mit markanten Bäumen und Buschgruppen im Dünengelände zwischen Kellenhusen und dem Leuchtturmgelände Dahmeshöved verging wie im Fluge.

Dann stand ich am Heiligenabend nach meiner gestrandeten Ausfahrt nach Santa Marta in Kolumbien in der vertrauten Welt meiner Kindheit und Jugend unter dem Schlafzimmerfenster über dem Pappdach unserer Waschküche. Es war Mitternacht und Stille am Turm, von Heiligabend keine Spur.  Nur über mir drehte sich ohne Unterlass der Linsenkranz der Leuchtturm-Optik und schickte seine Strahlen wie tastende Finger durch die dunkle Nacht zu den Schiffen auf See. Meine eigene Seefahrt beendete ich nach diesem unvergessenen  Erlebnis.

Ich war erlöst und unbeschadet zuhause angekommen, dennoch überfiel mich mit Macht ein Gefühl von Unwirklichkeit, von allmöglichen Fragen, für die ich plausible Antworten würde geben müssen.  Ehe eine geistig-emotionale Odyssee sich in mir anbahnen und ausprägen konnte, pfiff ich laut unter dem Schlafzimmerfenster. Ich pfiff eine Tonfolge, wie mein gefallener Vater sie immer gepfiffen hatte, wenn er sich meiner Mutter mitteilen wollte, die Distanz zum Sprechen aber zu groß war. Nach dem Pfiff hörte ich untrügliche Geräusche im Schlafzimmer, danach ging in der Küche das Licht an. Mittlerweile war ich im Vorbau die sieben Treppenstufen zur Eingangstür emporgestiegen. Ich rührte mich nicht und horchte. Dann kann von drinnen bei geschlossener Tür die Frage meiner Mutter. „Ist da jemand?“ Ihre Frage beantwortete ich spontan: “ Ick bünn doar!“  Mehrsekundenlange Stille. Dann brach es hinter der Tür hervor: „Mien leivste Welt, Josef ut Kolumbien is doar!“

 

Seit dem Ende meiner Seefahrtszeit habe ich diese Geschichte als ein besonderes Schlüsselerlebnis in meinem Leben aufschreiben wollen. Immer wieder ist sie aus dem endothymen Untergrund aufgestiegen, getrieben von der assoziativen Nähe zu anderen Geschichten von See und Meer. Es ist ihr ergangen wie vielen Äpfeln, die vom Baum gefallen sind, bevor sie reif waren.

von Uwe Landschoof, Weihnachtern 2019